Interview mit Pierre Gramegna in der Welt

"Ich sehe neue EU-Steuern eigentlich sehr positiv"

Interview: Welt (Tobias Kaiser)

WELT: Herr Gramegna, gleich drei europäische Finanzminister wollen Euro-Gruppe-Vorsitzender werden. Das Amt ist attraktiver als gedacht. Warum?

Pierre Gramegna: Ehrlich gesagt, Euro-Gruppe-Vorsitzender ist eigentlich ein undankbarer Job. Er bedeutet vor allem sehr viel mehr Arbeit, schließlich bleibt der Vorsitzende Finanzminister im eigenen Land, muss aber gleichzeitig viel Zeit investieren, Kompromisse auf EU-Ebene auszuarbeiten. Aber wenn man wie ich ein geborener Diplomat ist, dann ist es trotz der zusätzlichen Arbeit eine sehr reizvolle Aufgabe, grenzüberschreitende Lösungen im Interesse Europas zu finden.

WELT: Es gibt drei kompetente Bewerber, warum sollten sich Ihre Amtskollegen für Sie entscheiden?

Gramegna: Ich bringe die nötige Erfahrung mit, schließlich bin ich seit 6,5 Jahren Mitglied der Euro-Gruppe. Ich erinnere mich noch an meine erste Sitzung im Dezember 2013; damals haben wir uns feierlich auf die Grundzüge der Bankenunion geeinigt. Aber Grund zum Feiern gibt es nicht immer. Euro-Krise, Griechenlandkrise, Corona-Krise, das habe ich alles mitgemacht. Außerdem war ich Karriere-Diplomat, habe während der luxemburgischen Ratspräsidentschaft 2015 die EU-Ratssitzungen zu Wirtschafts- und Finanzthemen geleitet, war Botschafter in Japan und Generalkonsul in den USA, kenne also unsere globalen Wettbewerber. All das hilft. Ich möchte aber hauptsächlich so neutral wie möglich allen zuhören und Kompromisse finden zwischen Klein und Groß, Norden und Süden, Osten und Westen. Ich will die Gruppe ohne nationale oder versteckte Agenda leiten.

WELT: Ohne nationale Agenda; das heißt, Luxemburg hat keine eigenen Interessen?

Gramegna: Natürlich haben wir eigene Interessen, aber wenn ich Vorsitzender würde, säße auf meinem aktuellen Platz in der Euro-Gruppe ein anderer Vertreter Luxemburgs, der die nationalen Interessen vertritt. Ich habe stets die Interessen Luxemburgs vertreten, aber so, dass es Lösungen gibt, denen alle zustimmen können. Luxemburg war immer in seiner Geschichte kompromissbereit.

WELT: Wie haben Ihre Amtskollegen auf Ihre Kandidatur reagiert?

Gramegna: Ich bin der Kandidat, der von Benelux unterstützt wird. Das gibt der Kandidatur eine gewisse Stärke. Wir sind untereinander nicht immer einer Meinung, aber finden immer wieder Kompromisse. Deshalb sind wir oft zu dritt das Bindeglied zwischen Deutschland und Frankreich und stehen für die Mitte zwischen unterschiedlichen Haltungen.

Euro-Gruppe "kein Auslaufmodell"

WELT: Ist die Euro-Gruppe ein Auslaufmodell? Seit Großbritannien die EU verlassen hat, finden immer mehr Euro-Gruppe-Sitzungen im sogenannten erweiterten Format statt, an dem auch die Nicht-Euro-Länder teilnehmen. In der Zusammensetzung ist die Euro-Gruppe deckungsgleich mit dem Ecofin, dem Treffen der EU-Minister für Wirtschaft und Finanzen. Auf eine der beiden Gruppen könnte man doch verzichten.

Gramegna: Die Euro-Gruppe ist keinesfalls ein Auslaufmodell. Die 19 Länder, die den Euro angenommen haben und eine gemeinsame Währungspolitik teilen; das ist der harte Kern Europas. Und es ist gut, dass die Euro-Gruppe die Hand ausstreckt und mit denen redet, die noch nicht im Euro-Raum drin sind, vor allem wenn die Entscheidungen der 19 Auswirkungen auf die anderen haben. Wir hoffen ja noch immer, dass andere EU-Staaten dem Euro ebenfalls eines Tages beitreten werden. Langfristig werden alle EU-Mitglieder Teil des Euro sein, und das wird die Euro-Gruppe noch stärker machen.

WELT: Ökonomen warnen bereits vor einer Bankenkrise im Herbst, weil die Unternehmenspleiten in der Corona-Krise zunehmen und damit auch die Zahl der faulen Kredite.

Gramegna: Ich erwarte keine Bankenkrise. 2008 hatten wir eine Finanzkrise, die zur Wirtschaftskrise wurde, aber das ist heute ganz anders. Die Banken sind viel stärker als damals und sind heute Teil der Lösung. Über die Banken können wir die Kredite aus den Konjunkturprogrammen an die Wirtschaft weitergeben. Auch bei den faulen Krediten stehen wir viel besser da und haben eine starke europäische Bankenaufsicht bei der EZB. Die Bankenunion ist eine echte Erfolgsstory, auch wenn niemand mehr darüber redet. Deshalb bin ich überzeugt davon, dass wir keine Banken- oder Finanzkrise erleben werden.

WELT: Sie haben mit Ihren Amtskollegen den sogenannten Wiederaufbaufonds, das Kernstück des EU-Konjunkturprogramms vorgeschlagen. Der Vorschlag der EU-Kommission für das Programm sieht vor, dass, gemessen am BIP, kein Land so viel einzahlen soll wie Luxemburg, nämlich 5,4 Prozent des BIP. Ihr Heimatland soll 20 Mal mehr einzahlen, als es herausbekommt. Können Sie das zu Hause politisch durchsetzen?

Gramegna: Die Modalitäten und der ganze Rahmen des Wiederaufbaufonds müssen noch diskutiert werden. Luxemburg ist bereit, mehr einzuzahlen, als wir herausbekommen. Aber das Verhältnis muss sich in einem politisch vertretbaren Rahmen halten. Darüber hinaus würde ich auf zwei Aspekte achten. In Europa wird immer noch weniger investiert als noch vor der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008. Dieses Investitionsdefizit müssen wir korrigieren, und dazu kann der Wiederaufbaufonds einen wichtigen Beitrag leisten. Und das Geld darf nicht nur mit nationaler Perspektive ausgegeben werden. Egoistische nationale Investitionen bringen Europa nicht weiter. Es ist wichtig und gar nicht anders vorstellbar, dass das Geld mit einer europäischen Perspektive und auf grenzüberschreitender Basis ausgegeben wird. Digitalisierung und Kampf gegen den Klimawandel machen nur auf europäischer Ebene Sinn, und das muss beim Einsatz der Mittel aus dem Fonds berücksichtigt werden.

WELT: Die Kommission will die 750 Milliarden Euro an Krediten für den Wiederaufbaufonds mit neuen Steuern zurückzahlen, etwa mit einer Abgabe auf Plastik oder einer CO2-Grenzsteuer. Ist das seriös, wenn noch nicht mal klar ist, ob es diese Steuern geben wird?

Gramegna: Die Diskussion darüber läuft noch. Vor allem wenn sie an höhere Ziele wie Klimaschutz gebunden sind, sehe ich neue EU-Steuern eigentlich sehr positiv. Ich könnte mir zum Beispiel eine Plastiksteuer vorstellen. Ich kann mir auch eine Kerosinsteuer vorstellen. Wir können eine Reihe von Vorschlägen unterstützen, sobald wir die Einzelheiten besser kennen. Alles, was uns hilft, unsere ambitionierten Klimaziele zu erreichen, sollten wir ins Auge fassen.

Steuerpolitik in Luxemburg hat sich verändert

WELT: Luxemburg hat auch mit niedrigen Steuersätzen Großkonzerne aus der ganzen Welt angezogen. Könnte diese Ansiedlungspolitik, die viele Ihrer Amtskollegen kritisch sehen, Sie jetzt die Wahl kosten?

Gramegna: Nein, das sehe ich nicht so. Luxemburg hat während meiner Amtszeit seine Steuerpolitik stark geändert. Wir haben auf EU-Ebene die beiden Richtlinien zur Steuervermeidung unterstützt und zu Hause umgesetzt. Wir haben alle Regeln so geändert, wie die EU es wollte und wie das OECD-Abkommen BEPS zur Steuertransparenz es vorsieht. Das Luxemburg von 2020 hat in Sachen Steuern nicht mehr viel zu tun mit dem Luxemburg von 2012.

WELT: Die EU verhandelt international über eine Digitalsteuer; eine Einigung scheint aber im Moment fern. Sollte Europa stattdessen eine eigene Digitalsteuer erheben?

Gramegna: Noch wollen sich alle auf internationaler Ebene im Rahmen der OECD einig werden. Die USA haben gebeten, die Gespräche einige Monate bis zur Präsidentschaftswahl pausieren zu lassen. Das wurde teilweise so interpretiert, dass sie kein Interesse mehr an der Steuer haben, aber das sehe ich nicht so. Wir brauchen eine Digitalsteuer, und ganz allgemein müssen alle wirtschaftlich auf der gleichen Spielwiese spielen – oder nach den gleichen Spielregeln, wie Sie in Deutschland sagen. Wenn wir uns bis Anfang kommenden Jahres international bei der Digitalsteuer nicht einig werden und Europa einen neuen Anlauf für eine eigene Digitalsteuer unternimmt, würde Luxemburg sich dem nicht widersetzen, auch wenn uns eine internationale Lösung lieber ist. Aber dann muss die EU-Digitalsteuer zeitlich begrenzt werden, beispielsweise auf zwei Jahre. Dann haben alle mehr Druck, sich um eine internationale Einigung zu bemühen.

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