Interview de Pierre Gramegna avec Die Welt

"Ohne Europa wäre die Lage noch viel schlimmer"

Interview: Die Welt (Jan Dams, Thomas Exner, Holger Zschäpitz)

Die Welt: Herr Gramegna, von ihrer EU-Ratspräsidentschaft hat man bisher nicht viel gehört? Warum?

Pierre Gramegna: Wir haben einiges geschafft. Wir haben unsere Präsidentschaft unter das Motto des sozialen Triple-A gestellt.

Die Welt: Noch nie gehört.

Pierre Gramegna: Europa muss bürgernäher werden. Das ist auch wichtig für die notwendige Vertiefung der Währungsunion. Dazu gehört einerseits, dem Bürger Europa besser zu erklären. Die Vorteile zu nennen und natürlich auch, was Europa auf sozialem Gebiet noch alles besser machen könnte. Weil gerade sozial nicht genug geschieht, haben wir die Idee eines Europas mit Triple-A Sozialstatus gesetzt.

Die Welt: Das verstehen wir immer noch nicht. Geht es da um Sozialleistungen?

Pierre Gramegna: Ja, 'aber nicht nur. Auf sozialem Gebiet ist nicht genug gemacht worden. Wir müssen jeden einzelnen besser schützen. In Deutschland gibt es ja nun den Mindestlohn. Das war ein wichtiger Schritt. Aber die Diskussionen in Europa gehen weiter.

Die Welt: Was die Bürger - zumindest in Deutschland - viel mehr interessiert als weitere Sozialleistungen, ist die Flüchtlingskrise. Scheitert dort Europa schon im Ansatz?

Pierre Gramegna: Mit Europa ist es ja oft so, dass man das Glas halb voll oder halb leer sehen kann. Und Europa macht immer dann Fortschritte, wenn es schlimme Krisen zu lösen gibt. Griechenland ist doch das beste Beispiel. Im Juli haben wir die Krise überwunden.

Die Welt: Lassen Sie uns bei den Flüchtlingen bleiben.

Pierre Gramegna: Ich will gar nicht ausweichen. Ohne Europa wäre die Lage noch viel schlimmer. Es gäbe Flüchtlinge in Griechenland und Italien. Und der Rest Europas würde sagen, es sei ein griechisches oder italienisches Problem. Wäre das eine bessere Lösung?

Die Welt: Jetzt sagt der Rest Europas, es sei ein deutsches Problem. Ist das besser?

Pierre Gramegna: Nein, es ist ein europäisches Problem.

Die Welt: Noch nie war die Lage so dramatisch, dass selbst führende Politiker wie die Bundeskanzlerin vom Scheitern Europas sprechen.

Pierre Gramegna: Die Flüchtlinge sind eine Herausforderung für die einzelnen Länder. Warum will man diese Krise an das Bestehen und Vertiefung von Europa knüpfen? Das ist ein Denkfehler. Es ist kein europäisches Problem. Die Ursache des Problems liegt in einem Krieg im Nahen Osten, dem man sehr lange lediglich zugeschaut hat. Dort gibt es Millionen Flüchtlinge. Zwei Millionen in der Türkei. Anderthalb Millionen im Libanon und in Jordanien. Dafür hat sich in Europa kein Mensch interessiert, so lange die Flüchtlinge dort blieben. Wir fokussieren uns auf das schwache Glied Europa. Das wird der Sache nicht gerecht.

Die Welt: Die Deutschen fragen sich aber, wofür man Europa braucht, wenn es keine Solidarität in den Fragen zur Flüchtlingskrise gibt?

Pierre Gramegna: Schauen Sie, das europäische Budget ist rund 150 Milliarden Euro groß. Das entspricht der dreifachen Wirtschaftsleistung Luxemburgs. Wie wollen Sie mit so wenig Geld die Probleme lösen. Darum lautet ja auch die Frage, will man mehr oder will man weniger Europa? Aber: Zu sagen, dass Europa scheitert, weil es mit diesem kleinen Budget nicht alle Probleme lösen kann, scheint mir nicht der richtige Ansatz.

Die Welt: Sie ducken sich weg. Dabei gäbe es ohne den Schengen-Raum das Problem nicht. Wir hätten nationale Grenzen. Europa trägt als Staatengemeinschaft die politische Verantwortung für das Problem.

Pierre Gramegna: Schengen wird von Populisten und Europa-Gegnern genutzt, um die Leute glauben zu machen, dass es sonst -kein Flüchtlingsproblem gäbe.

Die Welt: Ist Angela Merkel eine Europa -Gegnerin, wenn sie sagt, dass wir die EU-Grenzen schützen müssen?

Pierre Gramegna: Sie vereinfachen. Wir sind doch alle einverstanden, dass wir die Außengrenzen besser schützen müssen. Dass wir dafür die finanziellen und personellen Mittel aufbringen müssen, ist doch klar. Da hapert es bislang. Diesen Punkt müssen wir angehen. 

Die Welt: Noch mal nachgefragt: Im September gab es europaweit 800.000 Flüchtlinge. Geeinigt haben wir uns gerade mal auf die Verteilung von 160.000 Menschen. Und selbst das klappt nicht.

Pierre Gramegna: Ich gebe ja zu, dass der Erfolg klein ist. Aber wenigstens gibt es einen kleinen Erfolg.

Die Welt: Welchen denn?

Pierre Gramegna: Dass wir die Probleme zusammen angehen, auch wenn wir noch nicht alles entschieden haben. Stellen Sie sich mal vor, wir hätten Europa nicht.

Die Welt: Was wäre anders?

Pierre Gramegna: Chaos hätten wir dann.

Die Welt: Wir haben Chaos.

Pierre Gramegna: Das stimmt so nicht. Sie wollen einfach nicht verstehen. Vielleicht liegt es an meinem Deutsch.

Die Welt: Ihr Deutsch ist hervorragend. Wir haben sehr unterschiedliche Wahrnehmungen. Für Deutsche ist das Chaos.

Pierre Gramegna: Nein. Das ist genau das Glas, das halb leer oder halb voll ist. Sie bemängeln sehr viel an Europa. Recht haben sie. Aber Sie wollen nicht wahrnehmen, was Europa erreicht hat.

Die Welt: Jeden Tag kommen bis zu 7000 Flüchtlinge hier an. Die Deutschen bekommen Angst. Angela Merkel aber will als überzeugte Europäerin die Grenzen nicht schließen und setzt auf Europa. Nur mit dem, was Sie aus europäischer Sicht an Hilfe jetzt in Aussicht stellen, braucht sie hier nicht mehr anzutreten.

Pierre Gramegna: Sie erleben das von innen. Nur ist das Problem doch schon viel älter und der Ursprung liegt auch wo ganz anders. Wir müssen uns um den Herd der Krise kümmern. Richtig ist, dass wir die Flüchtlingskrise nur sehr schlecht gelöst bekommen, wenn über die nächsten Jahre weitere Millionen Leute auswandern. Nicht nur aus Syrien, auch aus anderen Regionen.

Die Welt: Brauchen wir einen Flüchtlingssoli?

Pierre Gramegna: Wir leben in einer dramatischen Zeit, in der die zwei Problematiken von Sicherheit auf der einen und Flüchtlinge auf der anderen, sehr viel Geld kosten werden. Ohne Sicherheit in Europa kann auch die Wirtschaft nicht ordentlich wachsen. Man wird einen Teil der Ressourcen für diesen Zweck abzweigen und einen anderen Teil neu schaffen müssen. Die nationalen Haushalte werden mehr gefordert sein, denn das europäische Budget ist zu klein.

Die Welt: Müssen wir ärmer werden?

Pierre Gramegna: Zumindest werden wir mehr für andere ausgeben müssen. Und schauen Sie: Wir haben 1954 die Verteidigungsunion nicht geschafft. Der Vorstoß wurde im französischen Parlament gestoppt. Seither wurde kein neuer Anlauf unternommen. Damit haben wir ein riesiges Feld, in dem Europa nicht wirklich aktiv ist. Mit der Flüchtlings- und Terrorsituation sowie der Diskussion über die Sicherung der Außengrenzen, wird das Thema europäische Verteidigungsunion wieder aufkommen. Ich begrüße das sehr.

Die Welt: Was ist der politische Preis, den Europa zahlen muss?

Pierre Gramegna: Der neue Kuschelkurs mit der Türkei und Russland ist auffällig. Die Prioritäten ändern sich. Das ist ganz klar. Und wenn sich die Prioritäten ändern, dann ändern sich auch die politischen Entscheidungen und das Geld, das man dafür zur Verfügung stellt.

Die Welt: Sie haben gut reden. Wir haben uns den Staatshaushalt Luxemburgs angeschaut. Sie geben im Vergleich zum restlichen Europa viel weniger Geld für Sicherheit aus. Nimmt Luxemburg in der EU mehr als es gibt?

Pierre Gramegna: Wir geben lieber Geld aus für Entwicklungshilfe als für Verteidigung. Ein Prozent der Wirtschaftsleistung stellen wir dafür zur Verfügung, mehr als Deutschland. Aber die Regierung hat vor einem Jahr beschlossen, in den kommenden drei Jahren die Militärausgaben zu verdoppeln.

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