Interview de Pierre Gramegna avec le Handelsblatt

"Wer Verantwortung wahrnimmt, muss auch die Kosten im Blick haben"

Interview: Handelsblatt

Handelsblatt: Herr Gramegna, in Deutschland hält das Land Niedersachsen Anteile an VW und hat ein Vetorecht gegen alle Entscheidungen. Angesichts der Krise um VW: Meinen Sie, eine solche Konstruktion ist noch zeitgemäß?

Pierre Gramegna: Ich würde mit diesem Thema sehr behutsam umgehen. Wir hatten eine große Liberalisierung der Wirtschaft bis zur Finanzkrise. Da ging alles in die Richtung: Der Staat soll aus den Unternehmen raus. Das scheint mir zu einfach zu sein. Es gibt Fälle, da kann der Staat sagen: Ich will in diesem Sektor präsent sein, weil es mir besser geht, wenn ich dabei bin.

Handelsblatt: Der Staat als aktiver Aktionär?

Pierre Gramegna: Warum nicht? Das lässt sich nicht universal ablehnen.

Handelsblatt: Wenn sie eine Halbzeitbilanz der luxemburgischen Ratspräsidentschaft ziehen: Was ist gelungen, was nicht?

Pierre Gramegna: Ausschlaggebend in diesen drei Monaten war die Flüchtlingskrise. Da haben wir etwas geschafft, nämlich Einigkeit darüber, wie wir 160.000 Flüchtlinge in Europa aufnehmen. Klar, das kann nicht alles sein. Aber, was zählt ist, dass wir eine europäische Solidarität zustande bekommen haben, die gar nicht so normal war. Das ist ein Erfolg.

Handelsblatt: 160.000 – fehlt da nicht mindestens eine Null?

Pierre Gramegna: Das ist richtig. Sie können das Glas immer halb voll oder halb leer sehen. Aber hätten wir Europa nicht gehabt, hätte es nicht einmal für diese Flüchtlinge eine Grundlage gegeben, sie aufzunehmen und zu verteilen. Einverstanden, Europa macht noch nicht genug, aber wir fangen wenigstens mal an.

Handelsblatt: Was halten Sie von Frau Merkels Willkommens-Gesten?

Pierre Gramegna:  Ich glaube, das ist für das Image von Deutschland das Beste, was in den letzten 50 Jahren geschehen ist.

Handelsblatt: Man könnte sagen: Image ist nur Tapete...

Pierre Gramegna: Aber ich bitte Sie: Deutschland nimmt seine Verantwortung wahr. Hundertausende Flüchtlinge sind hier angekommen. Das ist doch mehr als nur Imagewerbung.

Handelsblatt: Können die EU-Länder die Flüchtlinge aufnehmen, ohne ihren finanziellen Rahmen überzustrapazieren?

Pierre Gramegna: Ich habe im EU-Finanzministerrat die Frage gestellt, ob die Kosten, die durch die Flüchtlinge anfallen, nicht als außerordentlicher Umstand gewertet werden können und deswegen aus den Defizitbestimmungen herausgerechnet werden können

Handelsblatt: Das öffnet doch Tür und Tor für eine neue Verschuldungsdebatte!

Pierre Gramegna: Im Stabilitäts- und Wachstumspakt gibt es extra eine Klausel für solche Fälle. Es ist jetzt Aufgabe der Kommission zu entscheiden, ob die Flüchtlingskrise unter diese Klausel fällt.

Handelsblatt:  Wie ist Ihre Meinung?

Pierre Gramegna: Ich meine, wir sollten das tun. Wir sollten die zusätzlichen Ausgaben neutralisieren.

Handelsblatt: Neutralisieren? Man könnte auch sagen: Es sich schön rechnen . . .

Pierre Gramegna:. . . nein, neutralisieren heißt, sie nicht zum jährlichen Defizit zu rechnen..

Handelsblatt: Wenn das jetzt also eine Ausnahme sein soll, dann steigt doch die Neigung, jedes Jahr wieder eine zu finden. Dann gibt es die nächste Bankenkrise, oder jetzt die VW-Krise . . .

Pierre Gramegna: Wenn ich sehe, dass jetzt über eine Millionen Flüchtlinge kommen, ist das eine echte Herausforderung. Auch eine finanzielle. Ich finde, dass man in einer solchen außerordentlichen Lage der Asylpolitik höchste Priorität einräumen und ihr entsprechend Rechnung tragen muss. Wenn es Hungersnöte gibt, sagen wir ja auch nicht, wir haben wegen unserer Regeln kein Geld mehr. Wer Verantwortung wahrnimmt, muss auch die Kosten im Blick haben.

Handelsblatt: Die Flüchtlingskrise ist die aktuelle Herausforderung. Langfristig gibt es ein anderes Problem: Das sind die Schulden der Industrieländer, deren alternde Bevölkerung und die Tatsache, dass die Kosten vor allem durch eine extrem expansive Geldpolitik bezahlt werden. Macht Ihnen das Sorgen?

Pierre Gramegna: Die Lage ist nicht in allen Ländern die gleiche. Es gibt Länder, die ihre Schulden reduzieren. Ich denke da an Deutschland. Oder unser Land. Man darf diesen Schuldenberg auch nicht schlimmer machen, als er ist. Die größte Frage ist nicht der Schuldenberg und die großzügige Geldpolitik – die Frage ist vielmehr: Wie bringt es Europa fertig, wettbewerbsfähig zu sein? Wenn wir das schaffen, können wir auch den Schuldenberg reduzieren. Dazu brauchen wir Strukturreformen. Spanien, Portugal, Irland – da greifen die Strukturreformen.

Handelsblatt: Dafür brauchen wir eine europäische Finanzverfassung, oder?

Pierre Gramegna: Der Vorschlag liegt auf dem Tisch.

Handelsblatt:  Ich bin 50 Jahre alt. Werde ich das noch erleben?

Pierre Gramegna: Wahrscheinlich. Das wird Schritt für Schritt passieren.

Handelsblatt: In Wahrheit sehen wir mehr Europakritiker als -freunde: die extremen Parteien, die britische Regierung.

Pierre Gramegna: Wir haben ganz verschiedene Tendenzen in Europa. Es ist notwendig, das Europa den Menschen zu verstehen gibt, wo sie Vorteile durch Europa haben. Sehen sie doch Griechenland: 86 Milliarden Euro ist das jüngste Hilfspaket schwer. Es war sehr peinlich für alle Seiten, wie das Paket zustande gekommen ist. Aber wir haben eine Lösung gefunden.

Handelsblatt: Was haben Sie gedacht, als der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis zurückgetreten ist?

Pierre Gramegna: Ich rede nicht über Kollegen. Ich habe mir vorgenommen, über Varoufakis keinen Kommentar abzugeben. Sein Nachfolger ist ein pragmatischer Mensch. Er hat in sechs Wochen fertig gebracht, was in sechs Monaten zuvor nicht möglich war.

Handelsblatt:  Ist der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras ein Spieler?

Pierre Gramegna: Er ist ein Politiker.

Handelsblatt: Wie Sie. Reden wir über Luxemburg. Haben Sie die Luxleaks verarbeitet?

Pierre Gramegna: Ja, und die Konsequenzen werden wir jetzt sehen. In dieser Woche werden wir eine Regel verabschieden, die den automatischen Austausch von Steuer-Vorabentscheidungen unter den EU-Staaten vorsieht. Wir haben wieder mal ein Problem gelöst. Jeder weiß künftig, was der andere macht. Die Vorabentscheidungen werden automatisch ausgetauscht.

Handelsblatt: Das eigentliche Verfahren ändert sich also nicht. Es wird nur transparenter. Wo sind die Konsequenzen für Luxemburg?

Pierre Gramegna: Wir haben unsere Praxis hinterfragt. Es könnte sein, dass verschiedene Unternehmen Luxemburg nicht mehr so attraktiv finden. Denn das Ganze geht natürlich gegen Briefkastenfirmen und zu Gunsten von Firmen, die mehr Substanz in Luxemburg haben als nur einen Briefkasten.

Handelsblatt: Was heißt mehr Substanz?

Pierre Gramegna: Das heißt Büro, Mitarbeiter – Sie könnten zum Beispiel sagen, dass Geschäftsbereiche wie das Risikomanagement in Luxemburg angesiedelt werden.

Handelsblatt: So etwas könnten Sie auch vorschreiben. Wenn in einem Jahr statt – sagen wir 100.000 Briefkästen – nur noch 50.000 stünden: Ginge es Ihnen dann besser oder schlechter?

Pierre Gramegna: Wenn hinter weniger Briefkästen mehr Firmen mit Substanz in Luxemburg stünden, ginge es uns sicher besser.

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