Interview von Pierre Gramegna im Luxemburger Wort

"Die Teenagerkrise ist überwunden"

Interview: Luxemburger Wort (Diego Velazquez)

Luxemburger Wort: Herr Gramegna, Sie wollten 2017 Chef der Eurogruppe werden. Was hatten Sie eigentlich vor? 


Pierre Gramegna: Ich war Kandidat, weil ich von einigen Kollegen aus der Eurogruppe dazu ermutigt worden war. Ich war auch der Meinung, dass ich Qualitäten besitze, um als Präsident eine Vermittlerrolle einzunehmen und die verschiedenen Positionen näher aneinanderzubringen. Wenn man dazu weiß, wie wichtig Deutschland und Frankreich sind, dann ist es immer gut einen Luxemburger als Präsidenten zu haben, da er die beiden Sprachen versteht und auch die wirtschaftlichen Philosophien beider Länder kennt. 

Luxemburger Wort: Gab es neben der Vermittlerrolle auch andere Impulse, die Sie in die Euro-Politik einbringen wollten? 

Pierre Gramegna: Ja. Das mache ich aber auch jetzt als Mitglied der Eurogruppe. Es hat natürlich weniger Gewicht, oder zumindest Sichtbarkeit, als wenn ich Präsident geworden wäre. So glaube ich beispielsweise, dass es mehr Solidarität zwischen den stärkeren und den schwächeren Euro-Ländern geben müsste. Diese Solidarität könnte meiner Meinung nach so aussehen: Die Euro-Staaten könnten in einen gemeinsamen Fonds einzahlen, mit dem man Investitionen in schwachen Ländern tätigen würde, wenn es mal zu einer antizyklischen Krise kommt. Es ist eine Idee, die auch Angela Merkel formulierte, wenn auch leicht anders. 

Luxemburger Wort: Warum ist aus Ihrer Kandidatur damals nichts geworden? 

Pierre Gramegna: Es spielten viele Faktoren mit. Da die Abstimmung geheim war, war es nicht so sichtbar, aber es gab zum Beispiel den Willen seitens der europäischen Volkspartei und der europäischen Sozialdemokraten, einen ihrer Politiker für den Posten zu haben. Das hat auch funktioniert. 

Luxemburger Wort: Intransparent, undemokratisch und politisch falsch gepolt. Ökonomen und Analysten sagen, dass die Eurogruppe - in der sich die Finanzminister treffen - das falsche Instrument sei, um eine sinnvolle europäische Wirtschafts- und Geldpolitik zu machen. Sehen Sie das auch so? 

Pierre Gramegna: Diese Kritiken scheinen mir übertrieben zu sein. Die Kritik, wonach die Eurogruppe undemokratisch sei, stimmt nicht. Die 19 Finanzminister, die in der Eurogruppe sitzen, sind alle in ihren jeweiligen Ländern in der Regierung und müssen sich dort vor ihrem Parlament verantworten. Zweitens hat man gesehen, dass die Eurogruppe es geschafft hat, die Krisenjahre zu überstehen. Die ersten Jahre der Eurogruppe, zwischen 1998 und 2007, waren ziemlich ruhig, weil die Wirtschaftslage insgesamt eine gute war. 
Danach musste man den Ländern, die in Schwierigkeiten waren helfen und gleichzeitig jene Sachen ändern, die die Verträge nicht eingeplant hatten, um auf Krisen zu reagieren. Ich würde sagen, dass der Euro und die Eurogruppe ihre Teenagerkrise gut überstanden haben. Dass die Eurogruppe eine kleine Struktur ist, macht uns zudem flexibler, und es war dadurch auch einfacher zu reagieren. 

Luxemburger Wort: Ist es nicht problematisch, dass kein Parlament für den Euroraum zuständig ist? Parlamentarismus ist doch eine Grundbedingung für demokratische Verhältnisse. 

Pierre Gramegna: Ja. Aber wir haben in der EU ja eine Doppeldemokratie - einerseits die nationalen Parlamente und andererseits das Europaparlament. 
Das Funktionieren der Eurogruppe fordert ja auch in manchen Situationen ganz schnelle Entscheidungen - manchmal auch am Wochenende. 
Das kann man nur schwer mit einem verstärkten Parlamentarismus kombinieren. 

Luxemburger Wort: Das eigentliche Problem ist ja, dass kein Parlament die Interessen des gesamten Euroraums im Auge hat. Es sind immer 19 verschiedene Parlamente, die 19 verschiedene nationale Interessen verfolgen ... 

Pierre Gramegna: Ja, das stimmt. Wir haben ein System zusammen auch mit der europäischen Zentralbank und dem europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), das sich so entwickelt hat. 
Wenn man mehr direkte Demokratie will, dann muss man durchaus über neue Konzepte nachdenken. 
Ich könnte mir vorstellen, dass der Investitionsfonds, von dem ich vorher gesprochen habe, eine Form von Euro-Budget sein könnte. Ich könnte damit leben. 

Luxemburger Wort: Macron hatte die Idee eines Finanzministers für die Eurozone lanciert, um das Demokratie-Defizit aufzuheben. Dieser Finanzminister würde über ein derartiges Budget wachen und wäre vor dem EU-Parlament verantwortlich. Wie stehen Sie dazu? 

Pierre Gramegna: Das ist eine Entwicklung, die langfristig wahrscheinlich einmal kommen wird, jetzt ist es aber etwas zu früh dafür. Und sie sollte parallel zu anderen Maßnahmen kommen, die wir gerade besprechen. Ich könnte damit leben, andere Staaten allerdings viel weniger. Die Idee hat allerdings ein Problem: Zwar macht es institutionell Sinn, da dieser Finanzminister vor dem EU-Parlament Rechenschaft ablegen muss, aber er ist dann nicht für einen eigenen nationalen Haushalt zuständig. Das ist insofern problematisch, weil der heutige Präsident der Eurogruppe, der gleichzeitig auch im eigenen Land Finanzminister ist, weiß, was es bedeutet, den eigenen Haushalt in Ordnung zu halten. jemand, der das nicht muss und anderen aber vorschreibt, was sie zu tun haben, könnte Spannungen provozieren. 

Luxemburger Wort: Wäre es nicht sinnvoller, sich über das Ganze Gedanken zu machen und nicht über den nächsten nationalen Wahltermin? 

Pierre Gramegna: Ich glaube nicht, dass es etwas daran ändern würde. Ich sehe dennoch mehr Vorteile als Nachteile. 

Luxemburger Wort: Und sollte dieser Euro-Finanzminister auch EU-Kommissar sein, wie Jean-Claude Juncker etwa meinte?

Pierre Gramegna: Das finde ich nicht gut. Er sollte unabhängig sein. Ich stelle mir das ähnlich vor, wie die Position von Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates. Dieser wird manchmal vom EU-Parlament einberufen, um über seine Arbeit zu berichten. 

Luxemburger Wort: Sie sagten, Sie seien auf einer ähnlichen Linie wie Frau Merkel, was einen möglichen Euro-Haushalt in Form eines Investitionsfonds angeht. Was bevorzugen Sie an dieser Vorstellung gegenüber der von Emmanuel Macron, der sich für Ausgleichsmechanismen zwischen den verschiedenen Staaten starkmacht? 

Pierre Gramegna: Die Solidarität, die wir aufbauen wollen, muss schrittweise kommen. Das muss parallel mit einer Risikenminderung kommen. Allerdings sind die Risiken in einigen Euro-Staaten noch sehr hoch. Die Solidarität, die ich mir vorstellen könnte sieht so aus: Einem. Land, das in Schwierigkeiten ist, muss man helfen, damit es wettbewerbsfähiger wird. Ausgleiche in Form von Transfers aus einer nationalen Kasse oder einem europäischen Topf - dafür ist Europa einfach noch nicht reif genug.

Luxemburger Wort: Was verstehen Sie unter Risiken? 

Pierre Gramegna: Wenn ein Land die europäischen Haushaltskriterien nicht einhält, dann muss alles geschehen, damit es diese Kriterien künftig einhält. Wie erklären Sie einem Land, das diese Kriterien einhält, dass es solidarisch mit einem anderen sein muss, das sich nicht daran hält? 

Luxemburger Wort: Werden diese Kriterien, wonach der staatliche Schuldenstand nicht mehr als 60 Prozent und das jährliche Haushaltsdefizit nicht mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen darf, der Vielfalt der wirtschaftlichen Strukturen der 19 Euro-Länder gerecht? 

Pierre Gramegna: Nur ein Land, und zwar Luxemburg, hat es bislang geschafft, diese immer einzuhalten. Wir hatten aber auch eine weltweite Finanzkrise. 
Sonst wäre es wahrscheinlich für die anderen weniger problematisch gewesen. Meine Antwort dazu ist eigentlich ganz einfach: Wir haben in den 19 Jahren des Euroraums die Haushaltsdisziplin sowie den Stabilitäts- und Wachstumspakt gestärkt, haben jüngst Maßnahmen zur Risikenminderung beschlossen und werden langsam auch zur Solidaritätsfrage kommen. Das ist auch konsensfähig. Nur über Ausgleichsmechanismen zu reden, würde uns aber auseinandertreiben. Wenn das den Kern der Diskussion bildet, dann werden viele Staaten alles blockieren, weil sie einfach keine Transferunion wollen. 

Luxemburger Wort: Wie optimistisch sind Sie, dass es beim EU-Gipfel Ende der Woche zu einem Konsens über verschiedene Reformen für den Euroraum kommen wird? 

Pierre Gramegna: Ich bin relativ optimistisch. 

Luxemburger Wort: Wie dringlich finden Sie es, den Euroraum zu reformieren? 

Pierre Gramegna: Wichtig ist zu erkennen, was man überhaupt braucht. Es scheint mir ein Konsens darüber zu entstehen, den ESM auch als finanzielles Sicherheitsnetz (der sogenannte "Backstop"; Anm. d. Red) für den gemeinsamen Bankenabwicklungsfonds zu nutzen. Das ist neu, gut und sehr wichtig, da wir es bereits seit Jahren besprechen. Ich befürchte aber, dass es dabei so läuft, wie so oft in Europa: Wenn etwas Wichtiges erreicht ist, wird es schnell zur Kenntnis genommen und dann werden sofort all jene Sachen bemängelt, die noch nicht da sind. Ende Juni sollte dieser Kompromiss erreichbar sein und ich glaube, er wird den Herausforderungen, vor denen wir stehen, gerecht werden. 

Luxemburger Wort: Apropos: Zu diesen Herausforderungen gehört die Tatsache, dass der Euro noch immer umstritten ist. In Griechenland wurde der Sozialstaat ausgehöhlt und gleichzeitig stieg die EU-Feindlichkeit im nördlichen Teil der EU. Der Euro bleibt ein Spaltpilz. 

Pierre Gramegna: Das ist Ihr Kommentar. Der Euro bleibt das mächtigste Mittel zur EU-Integration, das wir haben. Dass es politische Schwierigkeiten gibt, ist etwas, das bei jedem Thema vorkommt. Parteien, die gegen Euro und EU sind, gibt es nun einmal überall. 
Ich teile demnach ihre Analyse nicht. Ich halte mich an das, was Minister am Verhandlungstisch sagen und nicht an das, was verschiedene Parteien und Politiker in verschieden Mitgliedstaaten sagen. Ich sehe es so: Wir haben die Weltwirtschaftskrise überwunden, indem wir neue Instrumente, neue Verträge und neue Institutionen geschaffen haben, um auf Krisen zu antworten. 
Der Euro ist heute als Währung stärker und glaubwürdiger denn je, man liest aber immer nur über die Kritik. Ich bedaure, dass die Erfolge des Euro immer kleingeredet werden und nur über Krisen gesprochen wird. Das ist allgemein oft so in Europa. Schauen Sie sich Griechenland an. Viele Leute behaupteten, dass Griechenland nie aus der Krise kommen würde - jetzt ist das aber der Fall. 

Luxemburger Wort: Das hatte aber unheimlich hohe soziale Kosten ... 

Pierre Gramegna: Ja. Richtig. Dort wurden sehr harte Maßnahmen durchgesetzt. Das war aber allerdings auch, weil sich die Lage in Griechenland so sehr verfangen hatte, dass drastische Maßnahmen notwendig waren. 
Deswegen gibt es den Stabilitäts- und Wachstumspakt, um nicht aus der richtigen Bahn zu geraten. Sonst rutscht man in eine Art von Teufelskreis, in dem sich Griechenland seinerzeit befand. 

Luxemburger Wort: Wie sicher sind wir dann vor einer neuen Euro-Krise? In Italien hat man dennoch gesehen, dass die Anti-Euro-Rhetorik stärker wird. Auf Dauer ist das doch politisch untragbar ... 

Pierre Gramegna: Der Euro ist Teil der Verträge. 19 Staaten sind an diese Währung gebunden und derzeit sehe ich, dass die 19 fest der Überzeugung sind, dass sie Teil dieser Währung bleiben möchten. Dazu kommt: Wir haben zu elft angefangen, nun sind wir 19 und es ist wahrscheinlich, dass noch andere dazukommen - viel wahrscheinlicher sogar, als dass ein Land austreten würde. Sogar auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise wollte Athen nie aus dem Euro aussteigen. Die politische Analyse genügt also nicht. Griechenland hat uns gezeigt, dass die Kostenanalyse dabei eine sehr wichtige Rolle spielt. 
Die Kosten eines Euro-Austritts sind einfach unheimlich hoch. Darüber scheiden sich aber die Geister. Es gibt Ökonomen, die glauben, dass es besser wäre, wenn ein Land die Möglichkeit hätte, seine Währung zu entwerten. 

Luxemburger Wort: Sie sind da wahrscheinlich anderer Meinung ... 

Pierre Gramegna: Es gibt keine absolute Wahrheit in der Ökonomie. Deswegen interessieren sich Politiker so viel für die Ökonomie, Ökonomen aber viel weniger für die Politik. Aber: Länder, die sich daran gewöhnt hatten, ihre Währung systematisch zu entwerten um dadurch wettbewerbsfähig zu bleiben, mussten sich durch den Euro etwas bewegen und Reformen umsetzen, die manchmal unbeliebt sind. Wenn diese aber aufs Unendliche vertagt werden, entstehen Defizite im Handel und in den Staatsfinanzen. Und an einem Tag kommt dann der Augenblick der Wahrheit. Ganz nüchtern kann man auch sagen, dass unsere Haushaltsregeln gesunder Menschenverstand sind. Es geht nicht darum, Brüssel eine Freude zu machen. Die Wirtschaft verläuft nach Zyklen. Die Möglichkeit eines Abweichens von den Regeln des Paktes ist deshalb auch vorgesehen. Die Finanzkrise hat uns gezeigt, dass einige Länder einfacher aus der Krise herausgekommen sind als andere. So haben sich Länder wie Luxemburg oder Deutschland schnell erholt, während es in Italien in den letzten 17 Jahren beispielsweise kein Wachstum gegeben hat. 

Luxemburger Wort: Wäre es nicht für Europa an der Zeit zusammenzuwachsen, jetzt da Donald Trump gezeigt hat, dass ihm bewährte Allianzen weniger wichtig sind? 

Pierre Gramegna: Ja. Absolut. Wir machen uns auch viele Sorgen, weil wir befürchten, dass der Multilateralismus dadurch geschwächt wird. Multilateralismus ist eines der wichtigsten Instrumente auf der Welt, um diese zu organisieren und eine globalisierte Ökonomie zu ordnen. Dies infrage zu stellen, wird unvorhersehbare Folgen haben. Besonders für das Wachstum. Deswegen müssen wir als Europa zusammenhalten. Das haben wir auch bislang relativ gut hinbekommen - und auch Allianzen mit anderen Teilen der Welt gemacht, die unsere Analyse teilen. 
Wir müssen den Multilateralismus retten, der momentan unter Beschuss ist. 

Luxemburger Wort: In Steuerfragen plädieren Sie allerdings stets für Lösungen auf OECD-Ebene, damit auch die USA an Bord sind. Wie glaubwürdig ist dieses Argument, solange Donald Trump Präsident ist? 
Die Beps-Initiative (Eine Initiative der OECD, um Steuerdumping zu verhindern; Anm. d. Red.) ist. eine Erfolgsstory des Multilateralismus. Europa setzt diese Initiative als Pionier um. Allerdings sind auch die USA derzeit dabei, Beps umzusetzen; unter anderem durch ihre Steuerreform. Das wurde nicht oft genug gesagt. Vieles daran ist Beps-konform. Ich glaube demnach, dass ein Dialog mit den USA in diesem Bereich möglich ist und sogar verstärkt werden muss. Auch im Digitalbereich. Trump - und das hat er auch so gesagt - ist ja auch der Meinung, dass Digitalunternehmen ihren Teil Steuern zahlen müssten. Da müsste es ja möglich sein, zwischen der EU und den USA einen gemeinsamen Weg zu finden. 

Luxemburger Wort: Trotz der Alleingänge der USA in Sachen Klima und Iran-Deal? 

Pierre Gramegna: Ja. Wir dürfen Alleingänge nicht mit Alleingängen kontern. Wir müssen demnach Schneeballeffekte gegen den Multilateralismus verhindern. 

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